Johannes Braig

Bildender Künstler

Texte

reclining

Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der alten Kirche Mochenwangen

Johannes Braig wurde 1967 in Ehingen geboren und wuchs in Ravensburg auf. Es war Christel Fausel, die weltgewandte Kunstlehrerin am Spohngymnasium in Ravensburg, die seine künstlerische Begabung entdeckt und ihn zum späteren Kunststudium motivieren konnte. Johannes Braig beginnt – nach einigen Orientierungs- und Wanderjahren – 1990 sein Studium an der Hochschule der Künste Berlin bei der japanischen Grafikerin und Bildhauerin Leiko Ikemura. Mit einem Stipendium des Erasmus-Programms der Europäischen Union von 1994 kann Johannes Braig dann an der École Nationale Supérieure des Beaux Arts in Paris studieren. Seine Lehrerin dort war die Fotografin und Bildhauerin Annette Messager. 1997 ist Johannes Braig wieder zurück in Berlin, nun als Meisterschüler von Leiko Ikemura.
Heute wohnt und arbeitet der Künstler in Stuttgart.

Anfang 2017 stellte Johannes Braig in der Kleinen Galerie in Bad Waldsee aus. Vielleicht erinnern sich noch Einige. Unter dem Titel ON THE WAY TO OUTER SPACE, also Unterwegs im Weltraum, zeigte er damals eine Werkserie, die sich auf vergnüglich bunte Comic-Art mit Aliens beschäftigte. Man hatte in der Ausstellung den beruhigenden Eindruck, dass von ihnen keine Gefahr ausgehen kann, ja, dass es Typen sind wie Du und Ich – eben ohne Nasen –, die gerade mal einen Fototermin wahrnehmen und sich porträtieren lassen. Die Malweise des Künstler orientierte sich damals an altmeisterlichen Vorbildern. Statt Öl kommt jedoch Acryllack zum Einsatz. Daran hat sich nichts geändert. Johannes Braigs Schichtenmalerei basiert auf sich überlagernden Pinselstrichen, die lasierend wirken und so unzählige Farbnuancen möglich machen.

In dieser Ausstellung nun hat Johannes Braig seinen Ausflug in die Welt von Fantasy und Science Fiction längst wieder hinter sich gelassen. Er zeigt Arbeiten aus seiner aktuellen Werkserie reclining, die seit 2018 im Entstehen ist. Der Begriff reclining heißt soviel wie zurücklehnend, liegend und wird in der Kunst für gewöhnlich und im Speziellen für die liegende oder ruhende Aktdarstellung eingesetzt. Mit reclining nude, manchmal auch recumbent figure, ist also der liegende Akt gemeint. Bei Johannes Braig heißt es jedoch nur reclining. Es ist also ganz allgemein die Auseinandersetzung mit dem liegenden Prinzip, das ihn zu dieser Serie angestoßen hat. Der Künstler war über ein gleichnamiges Fotobuch auf die Idee gekommen, sich einmal näher mit der umfangreichen Motivgeschichte des Liegenden Akts zu beschäftigen.

Ganz speziell waren es Henry Moore und seine modellierend weichen, sphärischen Formen, die den Künstler fasziniert hatten. Er wollte einen Weg finden, Henry Moores plastische Virtuosität in die eigene Malerei zu übertragen und so stets eine dritte Dimension, eine Verräumlichung mitzudenken. Und das alles ohne sich zentralperspektivischer Mittel zu bedienen, welche seit der Renaissance Raumillusionen auf konstruktive Weise erzeugen. So entstanden Linien- und Bänderverläufe aus opak bis transparent angelegtem Farbauftrag auf durchgehend in Schwarztönen gehaltenen, monochromen Grundierungen. Diese Schwarzgründe wirken wie Bühnen für das jeweils davorliegende Farbgeschehen.

Damit sind die subjektiven Raumkoodinaten definiert. Johannes Braig beginnt seine Werkserie reclining mit Schwarzweiß-Gemälden. Er verwendet dünnflüssigen und lasierend weißen Acryllack auf schwarzem Grund. Er geht offensichtlich intuitiv an die Umsetzung, ohne Plan und Vorzeichnung, aber mit einer inneren Vorstellung. Johannes Braigs Malerei hat mit ihren reduziert einfachen Formmotiven eine auffällig grafische Wirkung. Die Grafik jedoch verliert sich mehr und mehr hinter einem stark modellierenden Duktus. Trotzdem bleibt sie als Zeile, Spur oder Gerüst erhalten. Kreis und Oval, Quadrat und Rechteck werden zu Symbolen für Auge, Okular und Display. So scheint uns jedes Bild aus vielen Augen – blasig und submarin – anzusehen. Es möchte uns vermitteln, dass es als Porträt verstanden werden will.

Dass es tatsächlich Porträts sind, vor denen wir stehen, kann sich nur langsam erschließen, zu raffiniert sind sie angelegt. Dabei scheint der grobe Aufbau eines Gemäldes schnell klar zu sein. In frei geführten Zeilen und Rubriken organisiert Johannes Braig zunächst eine Art Leserichtung. In den meisten Fällen eine von links oben nach rechts unten. Diese freien, unscharfen Koordinaten dienen als Hilfskonstruktion, aus der so etwas wie Raster und Muster entstehen können. Es sind jedoch in der Hauptsache die Farben, welche die Raumverhältnisse organisieren. Es entstehen Bildareale, die an die Malerei von Künstlern wie etwa Wassily Kandinsky, Gustav Klimt, Claude Monet und James Ensor erinnern. Jugendstilartige bis expressionistische Zitate, die isolierbar sind und von Johannes Braig durchaus als Verbeugung vor den Vorbildern gedacht sind. Bei dieser Gemengelage könnte man auch gleich noch den Einfluss von Jean Dubuffet oder Raoul Dufy mitassoziieren.

Wer sich also die Optik der Kunst der Art brut, der Raw Art oder der sogenannten Outsider-Kunst vergegenwärtigt, kann, wenn es nötig sein sollte, den kunstgeschichtlichen Hintergrund der Malerei Johannes Braigs besser einordnen. Es geht in dieser Art Außenseiter-Kunst in erster Linie um ein unverstelltes Zugehen auf die Malerei. Das Ideal wäre eine Malerei ohne akademischen Ballast, wie es eine im besten Sinne kindlich-kreative Sicht hervorbringen kann. Dass in einem solchen Verständnis von Kunst vor allem auch Witz und Humor zum Zuge kommen können, beweist Johannes Braig mit seinem gesamten Werk. Er kann einen jederzeit subtil bis charmant an der Nase herum führen.

Aber lehnen wir uns – nach dem Motto der Ausstellung – wieder zurück: Das Assoziationsfeld von reclining ist im Deutschen etwas weiter gefasst als im Englischen. Damit lässt es sich gut spielen. Die Bedeutungen gehen vom antiken Liegesofa, der Kline (man denke an Klinik), über die Chaiselongue bis zum profanen Liegestuhl oder gleich zum Bett, ja, in letzter Konsequenz bis zum Sarg. Reclining lässt also generell an Ruhemöbel denken, auf denen sich bekleidete oder unbekleidete Personen in Präsenzplicht zurücklehnen, ausruhen oder possieren, um gemalt oder fotografiert zu werden. Eine Assoziationskette wäre etwa: liegen-lagern-ausruhen -passiv-wehrlos-tot.

So wird das Motiv des Liegenden Akts und seine Modi des Ruhens zu einer Metapher für den Weg von der Geburt bis zum Tod, zu einem Sinnbild sowohl für das Leben als auch für das Sterben. Johannes Braigs Anstoß zu dieser Werkserie war die Konfrontation mit Henry Moore und überhaupt dem Liegenden Akt in der Kunst. Wo aber kommt das in seinen Gemälden zum Ausdruck? Vermutlich suchen einige längst angestrengt nach nackten Personen im Ausruhmodus. Und – was ist zu sehen? Farbige Kringel-Konglomerate, Quadratketten, Blasiges, Schleifenverläufe und hie und da Bandartiges. Nichts, was auf Liegende Akte hinweisen könnte. Die Ästhetik der Gemälde, so wie sie sich offensichtlich zeigt, reicht schließlich aus, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Einverstanden, dann bleibt es eben bei der ornamentalen Optik eines Kandinskyhaften Nachdieselns im Gewande des verspäteten Jugenstils. Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir in den nächsten Gang schalten müssen.

Was in Johannes Braigs Arbeiten wie eine malerische Lockerungsübung aussieht, hat nämlich bildsemantischen Tiefgang. Denn der Künstler musste sich intensiv mit dem Studium des Motivs der liegenden Gestalt beschäftigen, bis es schließlich zu einer Bildlösung in seinem Sinne kommen konnte. Denn zu jeder Zeit der alten, mittleren, neueren und neuesten Kunstgeschichte gab und gibt es schließlich Darstellungen des Liegenden Aktes. Zu den allgemein bekannten Highlights des Motivs gehören – neben Henry Moore – beispielhaft: Antonio Canovas Venus Victrix, eine Marmorarbeit von 1800, und natürlich die beiden um 1800 entstandenen Gemälde von Francisco Goya Die Nackte und Die Bekleidete Maja. Übrigens eine der sehr seltenen Darstellungen, in denen der Kopf der Dargestellten rechts oben und die Füße links unten positioniert wurden. Gustav Klimts Wasserschlangen II (Freundinnen) von 1904/07 gehören dazu und Amedeo Modiglianis Nu couché von 1917, der dieses Motiv exzessiv bedient hatte.

Die weiteren aberhunderte Beispiele will ich jetzt nicht aufzählen. Dazu gibt es massig Literatur und eben das nicht ganz preiswerte Buch Reclining nude von Lidia Guibert, 2002 erschienen. Aber jetzt kommt’s: Johannes Braig hat sich für eine Lösung im – man könnte fast sagen – Arcimboldo-Stil entschieden. Der Italiener Giuseppe Arcimboldo war ein Künstler des späten 16. Jahrhunderts, Manierist also. Man müsste ihn nicht kennen, wenn er sich nicht etwas Kurioses hätte einfallen lassen. Er malte zig authentifizierbare Porträts, die er aus Blumen, Obst- und Gemüseteilen, sogar aus Vögeln, Tieren, Fischen, Kröten und anderen Materialien zusammengesetzt hatte.

Johannes Braig geht ähnlich vor wie Giuseppe Arcimboldo. Nur dass er grafisch sehr reduzierte Motive bzw. Geometrien einsetzt, um das zu verschleiern, was eigentlich gemeint ist, den realen Liegenden Akt. Wer jedoch darum weiß und genau hinschaut, kann Gestalten und Gesten erkennen, die Bezug nehmen auf einige Vorbilder aus der Kunstgeschichte. Sie genau zuzuordnen aber wird schwierig.

Dr. Herbert Köhler [aica], Kunst- und Kulturpublizist

 

 

INTRODUCTION ET ALLEGRO IX

Wer aber soll hausen in jenen Welten, wenn sie bewohnt sein sollten? 
Sind wir oder sie die Herren des Alls?
 
Johannes Kepler

Der Weltenraum ist eine ziemlich ausgedehnte Sache. Und wenn da oben irgendjemand existieren sollte, mit dem ein Austausch möglich wäre, oder auch nur wünschenswert, so hindert uns an der konkreten Umsetzung der betrübliche Umstand, dass wir immer noch nicht imstande sind, uns mit WARP 4 durchs All zu bewegen, ja dass wir vermutlich nicht einmal in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit reichen werden, was zwar rein theoretisch den Abflug in die unendlichen Weiten, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat, ermöglicht, aber niemals ein Ankommen. Übrigens hätten Aliens, so sie es denn geben sollte, dasselbe Problem. Was dann die Frage, wie man mit eventuellen Kontakten umzugehen hätte, zu einem gewissermaßen akademischen Problem geraten lässt. Und wie überhaupt kommunizieren? Nehmen wir an, die außerirdische Zivilisation ist so winzig, dass der erste Astronaut, der einen Fuß auf den fremden Planeten setzt, drauftritt; Oder sie äußert sich als intelligenter Sand – stürmt der dann?; Oder sie hätte, infolge beschleunigten Stoffwechsels, die Epochenspanne eines Eintagsfliegenlebenslaufes und wäre für uns mit einem Wimpernschlag vorbei. Oder, gesetzt einen freundlichen Fall, die Fremden wollten mit uns herzlich schwadronieren, täten dies aber in Form von Mikrowellen: dann wären wir tüchtig durchgegart, ehe wir auch nur die Begrüßungsformel mitbekommen hätten. Von subtileren interkulturellen Unterschieden und fatalen Mißverständnissen einmal gar nicht erst zu reden. Denn was wir da finden könnten, wird ja nun einmal ganz gewiß nicht so aussehen oder sich aufführen, wie, sagen wir, Catrop-Rauxel.

Als Herbert George Wells sich für den epochemachenden Roman Krieg der Welten als erster seine marsianischen Invasoren vorstellte, gab er ihnen die Gestalt einer besonders intelligenten und ziemlich unterschätzten irdischen Lebensform, Tintenfischen, und die Mentalität von Hard-Core-Kolonisatoren des Britischen Empires: Einmarschieren und Ausplündern bei gleichzeitigem völligen Fehlen von Empathie für die einheimischen Lebensformen und totalem Desinteresse an Diplomatie. Das war 1898 und die schneidende Sozialkritik des Wissenschaftsjournalisten Wells ganz offensichtlich. Gleichzeitig aber hat er auch das grundsätzliche Dilemma der außerirdischen Begegnung aufgespannt: wie nämlich soll der Fremde aussehen, wenn er nicht Gliedmaßen und Gesicht hat, Gestik, Mimik,  sondern stattdessen meinetwegen Szoork und Fnac, wenn er nicht an uns selbst erinnert, oder wenigstens an irgendetwas, was wir kennen, etwas, in das wir uns hineinversetzen können, sondern eventuell an eine statische Piet-Mondrian-Komposition. Und deswegen sind auch Hollywoods Weltraummonster in aller Regel humanoid und ganz ganz selten eine enorme Portion Götterspeise, oder etwas in dieser Richtung.

Dass also den Außerirdischen von Johannes Braig die Ähnlichkeit zu ihren Betrachtern eignet, hat  seinen Grund nicht nur notwendigerweise in der Natur der Sache, sondern vielmehr dem Umstand, dass sie ja ganz bewusst auf ein Kommunizieren angelegt sind. Nicht, dass sie nicht wirklich fremd genug wirkten. Auch, weil sie sich den Konventionen gängiger Schönheitsideale ganz bewusst verweigerten. Oder sie lustvoll deformierten. Aber ebenso unzweifelhaft nehmen sie Kontakt auf, nicht selten durch den Blick. Ein folgendes Augenpaar, wie es die Malerei der Renaissance für sich kultiviert hatte. Gelegentlich durch das geschlossene Visier eines Helmes. Bei dem man nicht ganz sicher sein kann, ob er nicht irgendwo nonchalant in den Körper übergeht. Und wenn das das eine oder andere genuin weibliche Alien wie Madame Récamier auf die Chaiselongue hingegossen scheint, dann mag man erst auf den zweiten oder dritten Blick verwundert feststellen, dass einem die Menge zusätzlicher Glieder, Fühler, Sensoren und Tentakel eben doch gar nicht so störend erscheint, wie wenn man sich zunächst auf ihre Anwesenheit konzentriert hätte. 

Was nicht heißt, dass diese Wesen alle nicht doch sehr fremdartige wären. Manche sind fast skelettiert, bei anderen bildet eine Amplitude, ein Pulsieren von Linien die Gestalt. In denen Farbe dann genüssliche Akzente setzt. Überhaupt scheinen sie ja zwar ihren Ausgangspunkt in beständigen zeichnerischen Versuchen, Notaten, skizzenhaften Untersuchungen zu haben, schaffen dann aber spielend auch den Sprung auf die Leinwand und die lebensgroßen Dimensionen. Und was im Malerischen ganz bewusst zeichnerisch bleibt, linearbetont, Kontur, funktioniert dann doch erstaunlicherweise nicht weniger als Farbenraum. Den man gelegentlich wahlweise durchaus mit bengalisch oder geradezu unverschämt farbenfroh bezeichnen darf. Die Einwohner dieser Bilderwelten wirken fast wie ein Atlas von Erscheinungsformen, Varianten, Unterarten. Überaus bizarr, zuweilen befremdlich, manche spukhaft bis in die Groteske. Aber allesamt von einem überschäumenden funkelnden Humor.

Gerhard van der Grinten, 25./26.XI.2017 

 

 

ON THE WAY TO OUTER SPACE

Eröffnungsrede zur Ausstellung in der "Kleinen Galerie" Bad Waldsee 

Um Irritationen vor den Gemälden zu vermeiden, möchte ich gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass Johannes Braig verschiedene Signaturen verwendet. Also wenn da steht: Janis (mit einem oder zwei n), Jonny, OH (Onkel Hansi) oder Hansi, dann ist immer er gemeint. Zur Malweise. Der Künstler orientiert sich vorwiegend an barocken, altmeisterlichen Malern, nimmt aber Acryl statt Öl. Seine Schichtenmalerei basiert auf sich überlagernden Pinselstrichen, die lasierend wirken und unzählige Farbnuancen möglich machen. Auch wichtig: Braigs jeweils monochromer Farbhintergrund versteht sich nicht als bloße Grundierung, sondern fungiert als gewollter Kontrast zum eigentlichen Bildgegestand. Wenn Johannes Braig seine Künstler-Favoriten aufzählt, geht das so: »Velasquez, Caravaggio, Joseph Anton Feuchtmayr und der oberschwäbische Barock, Courbet, Manet, Gauguin, Picasso, Dubuffet, die CoBrA-Künstler, Pollock, Henry Moore, de Kooning, Francis Bacon, Jonathan Meese und weitere.« Zitat Ende. Will man nun die Paralleloptik noch mitassoziieren, dann kommen Künstler ins Spiel wie Raoul Dufy vom Fauvismus, Georges Mathieu vom Informel und vielleicht noch Albert Chubac aus der École de Nice.

Finden Sie nicht auch? Manchmal tut es richtig gut, wenn einem die Kunst leichtfüßig, einfach und vergnügt entgegen kommt. Man hat gleich die Checkung, weiß, worum es geht, kann sich problemlos orientieren, navigiert zielsicher durch die Ausstellung und lässt sich dann oft zu der voreiligen, nicht immer laut ausgesprochenen Behauptung »Das kann ich auch« verleiten. Picasso hätte da noch zügig pariert und geantwortet, »dann mach’s doch!« Und schon sieht die Sache wieder ganz anders aus. Johannes Braig meint lapidar: »Ich übernehme keine Vorbildfunktion«, »Ich habe nie behauptet, dass Sie das nicht auch können! Aber warum sollten Sie es tun?« Dann schiebt er noch angriffslustig hinterher: »Warum besuchen Sie eigentlich Ausstellungen?«, um stolz zu bekennen: »Ich entwickle mich konsequent zum Hobbykünstler.« Selbstkritisch legt er schließlich die Frage nach: »Bin ich nicht doch blöd?«

Johannes Braig sagt solche Sätze nicht einfach dahin. Er hat sie in früheren Arbeiten als Bildtitel oder gleich als Bildtext eingesetzt. Die Zitate, die teilweise wie Statements klingen, verraten aber schon viel über den subversiven Schalk, den der Künstler in all seinen Arbeiten irgendwie, irgendwo eingebaut hat, … mal mehr, mal weniger offensichtlich. Und diesen Schalk sollten wir auch mitschwingen lassen, wenn es hier in diesem Fall um das Thema Aliens geht.

Ob das mit mit dem Thema selbst zusammenhängt, den Aliens, die schließlich alles dürfen: vergnügt sein, witzig sein, ernst, bunt, schwer verknautscht sein, und sogar nasenfrei sein, weil sie gar keinen guten Riecher benötigen, um uns Erdlinge ausfindig zu machen? On the Way to Outer Space, Unterwegs im Weltraum, hat Johannes Braig seine Ausstellung betitelt. Der Künstler zeigt einen Querschnitt durch seine aktuelle Werkgruppe von Porträts, die einer Spezies gewidmet ist, die seit jeher unsere Fantasien geschäftigt, unsere Vermutungen einlöst oder wenigstens bekräftigt und die einer unserer größten Sehnsüchte eine Form geben könnte: Die Versicherung, dass wir – die Menschheit – mit unserem Raumschiff Erde nicht allein unterwegs sind in den Weiten des Alls, sondern durchaus Kumpel treffen können, die eben nicht von hier sind. Allein die quälende Frage: sind es wohlgesonnene oder sind es übelwollende hält uns auf Trab, treibt uns in Spekulation, Fantasy und Science Fiction. Johannes Braig hat die Frage für sich geklärt und stellt uns seine Aliens als Typen wie Du und Ich vor. Seine Aliens unterscheiden sich also gar nicht so sehr von den uns bekannten Lebensformen auf dem Heimatplaneten, zumindest nicht so gravierend wie früher, zu Marsmännchenzeiten, immer angenommen. Sicher, die Formen der Braigschen Außerirdischen wirken manchmal wie durch den Wolf gedreht, ja, verstreckt wie durch die Verzerrungsfilter eines Francis Bacon gesehen und die Farben grell und bunt. Und manche Aliens könnten geradezu Nachbarn sein. Manche könnten – je nachdem in welchem Zustand man gerade durch die Welt geht – sogar als eigenes Spiegelbild durchgehen, etwa nach einer durchfeierten Nacht oder nach groben Schnitzern der kosmetischen Chirurgie, etwa wenn aus einer Nasenkorrektur versehentlich eine Nasenamputation geworden ist. Johannes Braigs Aliens menscheln also sehr. Das aber macht sie dann auch so unwiderstehlich, so vertraut, so sympathisch. Auf jeden Fall erscheinen uns diese Aliens nie so ganz fremd. Und so könnte man durchaus vermuten, dass sie längst unter uns sind, sich assimiliert haben, mit uns kommunizieren. So denkt man beim Anblick der Braig’schen Porträtgalerie unwillkürlich an Vollsympathen und Serienhelden wie etwa ALF, den knuffig-frechen Außerirdischer vom Planeten Melmac, der mit seinem Raumschiff auf der Garage der US-amerikanischen Durchschnittsfamilie Tanner bruchgelandet war und anschließend vor Nachbarn und Behörden versteckt werden muss.

Auch der verträumt-desorientierte und heimatverlorene Außerirdische E.T. von Regisseur Steven Spielberg könnte einem einfallen. Und noch einige mehr. Vor etwa zwei Jahren kam Johannes Braig auf die Idee, seinen Außerirdischen ein Gesicht zu geben – oder soll ich besser sagen, Gesichter für Außerirdische bereitzustellen. Er begann damit, eine Porträtgalerie anzulegen. Begegnet war er seinen Aliens nicht nur auf seinen eigenen, virtuellen Expeditionen durch das Universum, viel Entdeckerarbeit nahmen ihm vor allem erfolgreiche US-amerikanische Fernsehcomicserien ab. Die wichtigsten waren die Serie South Park, die es seit 1997 gibt und in der runde smiley- Gesichter bitterböse bis schärfste Gesellschaftskritik üben. Dann die Serie Futurama, die es seit 1999 gibt und die von den Machern der Simpsons’ erfunden wurde. Dann die Serie American Dad, die seit 2005 im Fernsehen läuft. In allen drei TV-Serien laufen Typen herum, die sich irgendwie bei Johannes Braig einschleichen konnten. Diese Tatsache aber bestätigt lediglich, dass die verschiedenen Sichtungen von Aliens in etwa zum gleichen Erscheinungsbild gekommen sein müssen. Unterschiedliche Quellen, gleiches Ergebnis! Ganz klar ein Beweis, dass es sie wirklich gibt!

Johannes Braigs Smiley-Alien von 2015 könnte in South Park gesichtet worden sein. In Futurama gibt es einen Dr. John Zoidberg vom Planeten Decapod 10. Ihm lappt statt einer Nase ein 4-fingriger Kamm über die Stirn. Er praktiziert als Arzt, verfügt jedoch über keine Kenntnisse der menschlichen Physiologie und promoviert wurde er – wie könnte es anders sein – in Kunstgeschichte. In American Dad gibt es einen Alien ohne Nase. Der heißt Roger, ist 1947 mit einem UFO im legendären Roswell, New Mexico, abgestürzt und lebt seitdem auf der Erde. Eigentlich war er als Crashtest-Dummy in seinem Raumschiff unterwegs. Roger lebt auf dem Dachboden im Haus der Familie Smith. Er liebt Fernsehen, Zigaretten, Kokain, Fastfood und Alkohol. Johannes Braig malt seinen Roger deshalb blau. 

Johannes Braig ist weder Astro- oder Exobiologe noch Verschwörungstheoretiker. Kontakt zu Außeridischen nimmt der Künstler für gewöhnlich über Fernsehserien auf. In solchen Serien ist Zukunft Realität, außergewöhnliche Erscheinungs- und Lebensformen sind Normalität und das Abstruse die Regel.

In allen drei genannten Comicserien gibt es immer wieder ironische Anspielungen auf die Umtriebe der seit Jahrzehnten sagenumwobenen bis mysteriösen Area 51, diesem militärischen Sperrgebiet der US-Air Force im Bundesstaat Nevada. Hier auf Area 51 soll es sogar einen Lande- und Startplatz für UFOs geben. Unter Ausschluss einer leicht zu  verschreckenden Öffentlichkeit soll auf dem Hochsicherheitsgelände besonders intensiv nach außerirdischem Leben geforscht werden. In den USA gibt es übers ganze Land verteilt auffällig viele Gruppen, die sich mit Aliens und deren Lebens- und Erscheinungsformen beschäftigen. Solche passionierte Gruppen behaupten sogar, in Kontakt mit Außerirdischen treten zu können, ja, normale Beziehungen zu ihnen zu pflegen und von ihnen Botschaften zu erhalten. Dann gibt es die Fallensteller, die vorgeben, mit ihren methoden Aliens einfangen zu können. Immer wieder gelingt den Jäger ein spektakulärer Fang, den dann aber nur sie sehen und wahrnehmen können, während das gespannte Publikum nichts erkennen kann, dafür aber nicht weniger überschwenglich mitfeiert. Wie dem auch sei. Die Menschen sind fasziniert von der Vorstellung, es könnte sie wirklich geben, diese Außerirdischen. Das ist einfach eine angeborene fixe Idee der Menschheit. Aber warum sollten diese Aliens gerade organisch angelegt und von ihrer Gestalt her uns denn so ähnlich sein?

Hier kommt die Psychologie ins Spiel. Wir Erdlinge können uns das Fremde besser vorstellen, wenn es eine uns vertraute Erscheinungsform annimmt. Es geht um den Nähebezug. Wir wollen geliebt werden von den Außerirdischen und wir wollen sie lieben können. Das zwangsläufig Fremde einer extraterrestrischen Population wird also dadurch neutralisiert, indem sie daherkommt wie Du und ich. Das wirkt angstlösend, vorurteilshemmend und schließlich verbrüdernd. Denn wenn unser Raumschiff Erde in den Weiten des Universums überhaupt eine Zukunft haben soll, dann braucht es die da draußen.

Dr. Herbert Köhler [aica]

Kunst- und Kulturpublizist

 

 

„Will uns der Künstler etwas sagen?“

 

Der vorübergehende Rückzug aus der Figuration in den 1990ern und da­raus resultierend die Suche nach einer neuen malerischen Positionierung führte Johannes Braig zur Abstraktion. In der Auseinandersetzung mit der Welt der Farben und Formen kristallisierte sich bald der Schwerpunkt der Farbe heraus. Braig ergründete seine Bildwelt über Farben, Farbwirkungen und Farbkontraste. Er entwickelte ein höchst sensibles Gespür für Farbe und experimentierte mit deren Verwendung auf der Leinwand und an konstruktivistisch reduzierten Alu­minium­objekten. Doch rückblickend war auch während der abstrakten Jahre die Figuration stets präsent, noch nicht auf den Kunstwerken sichtbar, aber im Geiste längst angelegt. Der Künstler selbst bezeichnet diese Phase als „Verpuppung“ — eine Verpuppung der Figur in der Form. Die Beschäfti­gung mit den Bildern des großen Francis Bacon war ein Auslöser, dass Johannes Braig vor einigen Jahren an den Punkt kam, Farbe und Figur wieder miteinander zu verbinden. In seinem Archiv der „weiblichen Figur“ schlummerten zahllose Kör­per und schienen nur darauf gewartet zu haben, sich endlich vor den mono­chromen Hintergründen behaupten zu können. Eine Ausstellung mit Werken des 1962 geborenen deutschen Malers Daniel Richter (der im übrigen bis zum Jahr 2000 nur abstrakte Bilder malte) ließ definitiv den „Knoten platzen“. „Ich begriff plötzlich“, so Braig im Gespräch, „dass es sich wieder lohnt zu malen.“ Das neue Selbstbewusstsein gab ihm den Antrieb für die Rückkehr zu einem Werk im Wechselspiel von Farbe und Figur.

Doch Johannes Braig wollte noch intensiver eintauchen in die „Tiefen“ der Kunst und begann sich für die Regeln des Kunstmarktes zu interes­sieren. So hat er im Jahr 2005 mit Kollegen die Galerie fine arts 2219 in Stuttgart eröffnet. Als Ausstellungsmacher, Kurator und Galerist wechsel­te Braig bewusst das Lager. Natürlich hinterließ diese Arbeit auch originäre Spuren in seinem künstlerischen Werk. In der Folge entstanden Texttafeln mit dem gänzlichen Verzicht auf eine bildnerische Darstellung. Diese Texttafeln der letzten Jahre offenbaren subtile Einblicke in die Gründe und Abgründe des Kunstmarktes. Die Künstlerkollegen werden darin geduzt, die potenziellen Käufer gesiezt. So wie es die Stärke der Malerei ist, sich dem nachweislichen rationalen Zugang zu entziehen, so ist es die Stärke des Textes, verstanden oder missverstanden zu werden. Insbesondere in den Texttafeln und Textbildern fordert Braig beides von sich und von uns Betrachtern: Die einen lockt er über den Verstand, die anderen über das Gefühl. Lapidar kommentierte Johannes Braig beim Aufbau der aktuellen Ausstellung: „Jeder kann sehen, was er will“… — sagt es und setzt dabei sein ironisches Lächeln auf. Wir als Betrachter mögen uns fragen, welche Rolle der Künstler uns in der Ausstellung zu­gedacht hat. Keineswegs nur die des Zuschauers! 

Im Zuge der zahlreichen Publikationen rund um die jüngste wirtschaft­liche Rezession im Lande und auf der Welt steht natürlich auch die Kunst auf dem Prüfstand. Im Kundenmagazin eines großen Finanz­dienst­leisters war in einem Monatsheft über Kunst zu lesen: „Schöner als Aktien“, „Schönes darf kosten“ oder „Wenn es so einfach wäre, mit der Kunst Geld zu verdienen, würde keiner mehr Aktien kaufen“. Ein Auktionator stellte als Krönung des Artikels die „Gol­­denen Regeln für den Kunstkauf“ zusammen und selten wurden mir die Beweg­gründe für Braigs Texttafeln und Textbilder so klar wie nach der Lektüre dieses Hef­tes. Man könnte Johannes Braig sein zielgruppenorientiertes Auftreten und sein verkaufsstrategisches Handeln zum Vorwurf machen, wäre nicht alles viel komplizierter. Denn: Sind Braigs Textbilder tatsächlich Früchte rationaler Ar­beit? Lösen seine Frauenfiguren wirklich positive Gefühle aus? Ist es nicht eher so, dass uns bei so manchem Textbild das Lachen im Halse stecken bleibt oder
dass wir uns gar in unserem „Nach­denken über Kunst“ ertappt fühlen? Und sind nicht die meisten Körper gespenstisch verkrümmt und grausam verzogen?

Braig weiß um den Reiz der Farbe und so mag man insbesondere bei den Großformaten kurze Zeit dem Zauber der barocken Farbigkeit erliegen. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, würden wir die bildnerische Aussage allein auf deren Farbigkeit reduzieren. Vielmehr drängen sich Anlehnungen an das deutsche Rokoko auf. Der 1770 am Bodensee verstorbene Künstler Joseph Anton Feucht­mayer galt als Hauptmeister eines Rokoko, in dessen Werk sich dramatischer Ausdruck mit einer Neigung zum Spielerischen und Absonderlichen verband. Wer unter dem Motto „Braig trifft Rokoko“ die figurativen Bilder der letzten Jahre betrachtet, spürt förmlich, wie diese durchdrungen sind von der male-­ri­schen Suggestivkraft vergangener Jahrhunderte. Denn die teils bizarren Kör­per­bilder von Johannes Braig lösen Diskussionen aus über Schönheit, Weib­lichkeit, Kör­perlichkeit und Vergänglichkeit. Diese schablonenhaften Wesen werfen weder Schatten noch tragen sie Attribute. Schutzlos, alleine und ganz mit sich selbst beschäftigt, scheinen sie sich vor fiktiven Spiegeln zu räkeln und nichts zu ahnen vom Betrachter, dessen Augen ihre Körper fokussieren. In den neuesten Bildern scheinen diese ephemeren Körper dem Irdischen völlig ent­hoben. Die starke Kontur früher datierter Werke löst sich in den neuen Bildern zugunsten einer malerischen Linienführung auf. Die Malerei gewinnt wieder Oberhand im Werk des Künstlers.

Wie verhält es sich nun mit den Textbildern? Kommen manche nicht auf­fällig stümperhaft und schwerfällig daher? Zwar entwirft Braig seine Buchstaben am Computer mit einer großen Sensibilität für die Schrift, aber er setzt seine Buch­staben im Bild bewusst amateurhaft, indem er kompositorische, ortho­graphische und stilistische Regeln willentlich missachtet. Wollte man der Gattung Text- und Schüttbild in seiner vermeintlich „handgestrickten“ Version eine Rolle im Theater einer Ausstellung zukommen lassen, so ist es die des Protests, des Aufruhrs, der Mobilisierung. Frei nach dem Motto: Jedweder kunstpolitische Aktionismus ist erwünscht! Das Titelbild der Ausstellung Will uns der Künstler etwas sagen? gehört zur Reihe der Schüttbilder, in denen sich verbale und non­verbale Botschaften aufs Genialste verbinden. In seinen Schüttbildern präsen­tiert uns Johannes Braig geballt und kraftvoll die Koexistenz von Text, Figur und formalem Zitat. Schein­bar flüchtig collagiert er Fotos mitten hinein in diese gestische Malerei. Die Irritation ist perfekt. Reizüberflutet stehen wir vor diesen großen Formaten und können — sofern wir wollen — eine ganze Lawine inter­pretatorischer Kommentare auslösen. 

In seinem Artikel „Kunst, Erkenntnis und Verstehen. Eine Verteidigung einer kognitivistischen Ästhetik“ (erschienen in: Wozu Kunst. Die Frage nach ihrer Funktion, 2001) resümiert der Philosoph Oliver R. Scholz: „Wir lernen also unterschiedliche Dinge aus Kunstwerken und das auf vielerlei Weisen: Kunst-werke können unsere sensorischen Unterscheidungsfähigkeiten erweitern und kultivieren; sie erschließen uns Züge an Dingen und Personen, die uns sonst verborgen blieben; sie bieten neue Schemata zur Kategorisierung und Ordnung von Wirklichkeiten an; sie schulen moralische Phantasie und das mo­ralische Urteilsvermögen; sie bereichern und differenzieren unsere emotionale Sensi­ti­vi-
­tät und unsere Selbsterkenntnis; schließlich können sie uns grundsätzlich sogar zu wahren Meinungen und in der Folge auch zu Wissen verhelfen.“ (S.47/48) Nehmen wir diese kunsttheoretische Erkenntnis als Antwort auf die Leitfrage dieser Ausstellung: Will uns der Künstler etwas sagen?, so kann und muss diese Frage von Johannes Braig als rhetorisch entlarvt werden. In der Tat unter­stelle ich dem Künstler und Menschen Braig, dass er schlimmsten- oder besten­falls durch seine Kunstwerke „en gros“ das einzulösen versucht, was der Philosoph Oliver R. Scholz in seinem Text proklamiert.

Andrea Dreher, Ravensburg Mai 2009.

 

 

INTERPLAY

Für Johannes Braig
Die Grotesken haben den unbeständigen Zauber des Traums.   André Chastel

Gibt es für einen denkenden Menschen einen besseren Platz, als zwischen den Stühlen zu sitzen? Einfache Wahrheiten (der Ball ist rund, der Mensch ist die Krone der Schöpfung, die Malerei ist am Ende) eignen sich bestenfalls für Menschen schlichten Gemüts. Wer jedoch nachdenkt, bemerkt unvermeid­licher­weise die Widersprüchlichkeit der Welt: Der Weise nimmt sie hin, anstatt sie auf­­­­­lösen zu wollen, und hat, wenn er denn etwa Lao Tse heißt, Stoff zum Nach­denken für sein ganzes Leben. 

Naive Menschen beispielsweise und vernagelte reagieren mit Unverständnis oder Verbiesterung darauf, wenn das eine Stück Musik nicht den anderen des­selben Komponisten ähnlich klingt, ein Bild des gleichen Malers nicht wenigs­tens entfernt wie die übrigen aussieht, kurz, wenn sie entgegen ihrer Gewohnheit bedient werden. Dann heißt es ratlos und verständnisunsinnig: Ach, so etwas machen Sie auch? Ganz, als ließe sich die identische Symphonie zweimal schrei­ben, dasselbe Bild beliebig häufig malen. Das heißt, natürlich kann man das als Autor, doch wozu. Wiederholte man sich nur, könnte man es auch genauso gut ganz bleiben lassen. Kunst bedarf der Notwendigkeit — dabei ist es völlig gleich, welcher auch immer —, nach der Notwendigkeit bestimmen sich die Ausdrucks­mittel, egal, wie disparat oder divergent sie sich äußern. Oder, um es mit einer der fabelhaft handfesten Arbeitsanweisungen des Joseph Beuys zu sagen: Könnte man es mit Worten so oder so ausdrücken, bräuchte man die Blutwurst nicht zu machen. 

Das Wesen der Dinge bewegt sich zwischen geistiger und materieller Welt: Wort, Begriff, Stoff, Bild. Aber austauschbar sind sie nicht: Das Bild überwältigt das Wort allemal, eifersüchtig beäugt von den Philosophen, die alles jenseits der logischen Schönheit mathematischer Beweise berechtigterweise als Anschlag auf ihre Deutungshoheit betrachten.

Johannes Braig setzt sich offensichtlich höchst absichtsvoll zwischen die Stühle und Kategorien. Weil er ein nachdenklicher Mensch ist. Weil ihn durch­aus der Schalk umtreibt. Weil sich bewusste Ernsthaftigkeit in seinem Arbeiten mit bewusstem Vergnügen — nicht mit Witzigkeiten — verbindet, mit ganz bewusster Unzeitgemäßheit: dem Erbe der süddeutsch barocken Bilderlust, dem Wunsch nach Schönheit. Letzteres trägt einem erfahrungsgemäß erst recht den Zorn der Ästheten der Moderne ein, denn da Schönheit anrührt, macht sie dem Unsicheren und Verklemmten Angst. 

Und weil das Œuvre die Ambivalenz der Dinge nicht scheut, äußert es sich am­bivalent: ob als Phänomen in den frühen Objekten, deren Quintessens nicht sie selber, sondern die farbigen Schatten, die sie warfen, waren; ob im Gegen­ständ­lich-Figürlichen, ob in der ungegenständlichen Entäußerung, den aleato­rischen und gestischen Augenreizungen; ob in den gemalten Parolen, die, ganz parabolisch, zugleich doppelbödig und Parodie ihrer selbst sein mögen. All das erwächst aber aus einem Humus, ganz gleich, wie verschiedenartig es sich nach außen gibt. Ist ge­danklicher Vorwurf, der umtreibt, formale Lösung und wiede­rum Reflexion des Entstandenen nicht zuletzt in Hinsicht auf das, was als nächstes kommen wird.

Dabei ist der kreative Impetus fast manisch, die zahllosen, randvollen Skizzen- und Zeichenbücher legen davon Zeugnis ab, manche beinahe Leporello-Objekte und im Wesentlichen um ein Bildthema kreisend, den weiblichen Akt. Denn der ist in Wahrheit (und allem Homoeroten-Ideal von edler Einfalt/stiller Größe zum Trotze) viel spannender, geheimnisvoller und abwechslungsreicher als sein fade funk­tionales männliches Pendant. Nur sind auch diese Akte nicht geschönt, nicht Pin-Up-Ästhetik, sondern Bizarrerie, Burleske, Drolerie, Grotesk­heit: jener genuin komische Aspekt in der Kunst, der, man weiß es spätestens seit Bosch, durchaus Aspekte des Dämonischen in sich trägt. Phantastik schlägt Ratio am Ende immer: Das schönste Beispiel ist Leonardo. Diese Komik hier aber enthält durchaus die romantische Traurigkeit im Wissen um die Conditio humana.

Die Frauengestalten geben sich derb und poetisch, komödiantisch, grazil und archaisch wie die der Kinder und Naiven, kein parfümierter Bildluxus, son­dern Schwelgen in ganz andrem Sinne, im Gegenstand, in seiner Uner­schöpf­lichkeit.Um­riss, seine Doublierung, die Interferenzen, die damit entstehen: Täuschung, Ve­xier­­bild. Zeichnung begleitet Malerei, als Notat, mag selber far­bige sein, während die Malerei Modulation kaum je zulässt: Vielmehr sind die Linien und Linien-bündel farbige auf farbigen Gründen. Und die wiederum, mo­no­chrom, oft von signalhafter Leuchtkraft, in teils herrlich affektierten Farben oder solchen, die Affekte hervorrufen. Allenfalls Binnenfarben geben flächigen Kontrast.

Nur Figurationen, überwiegend alleine im Bildraum, der mit den Konven­tio­nen der Kompositorik und ihrer Erwartung zu spielen weiß. Gelegentlich korres­pon­dieren sie über eine Reihe von Bildern, selten mit anderen Elementen, manch­­mal sind sie paarig, häufig anspielungsreich, Brunhilden, Kriemhilden, kleines Ge­spenst. Und dann gibt es die collagierten, geblümter Stoff auf ein­farbigem Grund, Kontur, auch die ist aussagekräftig.

So weit, so gut, so circensisch. Gibt es doch daneben die Schüttbilder, die Gri­­­massen, die Gesichter als Fortsetzung der weiblichen Körper, die aleatorischen Flächen, die den Zufall nutzen, um komplexe Texturen zu erzielen. Auch diese sind phänomenisch, verweisen auf die Ahnen der Art Brut und der Arte Povera und auf jenen unvorhersehbarsten und komplexesten der ungegenständlichen Kompositeure, Jackson Pollock. Aber auch diese sind verquerer, als sie auf den ersten Blick daherkommen. Manche muss man schon sehr genau betrachten, um etwa die eingefügten photographischen Elemente auszumachen. Leichter, weil offensichtlich, fallen einem die Parolen ins Auge, die sich teils ruppig ins Gemalte wuchten: Hier schlagen die Lettern ganz bewusst aus der Art und scheinen sich um klaren Stand nicht zu scheren, stauchen sich und stoßen an die Ränder. Was nun auch mit ihrer Attitude zu tun haben mag, denn ein Backofenformbild oder gar Kunstscheiß müssten erst einmal verdaut werden. Während abstrakt-wa­­ber­nde Masse für die Vorstandsetage einem doch recht nachdrückliche Hand­reichung gibt.

Ganz bewusst stehen hier neben den Leinwänden, die den klassischen Kunst­begriff evozieren, die Baumarkt-Latten der Do-it-Your-Self-Heimwerker-Front, die die Andachtsgeste des Betrachters dem Bilde gegenüber gründlich infrage stellen, getreu der Beuys’schen Maxime, dass der Fehler beim Schaffen von Kunst mit dem Kauf eines Keilrahmens beginnt. Dann darf man sich als Be­trachter fra­­gen lassen Was ist denn da passiert? oder Enthalten Kunstwerke geheime Bot-s­chaften? Und seinen Kopf gebrauchen. Was sieht man? Was ist Imagination? Pro­blemaufwerfungs- und Belehrungsbilder mögen da durchaus geistige Nah­rung bieten.

Vor sich selbst macht das schon gar nicht halt und die selbstironische Parole gerät zum teils ätzenden Spott: Die Wertebilder zeichnet schlicht ihr Preis aus. Aber Wenn Sie dieses Bild kaufen, haben Sie es geschafft. Eulenspiegelei schwankt stets zwischen Schalk und Ernst, sie hält den Spiegel vor, dem Narrenschiff nicht weniger als dem eigenen Gesicht. Besetzt, als Kunst, Positionen im Nie­mandsland, hält sie: Ich habe nie behauptet, dass Sie das nicht auch können! Aber warum soll­-
­ten Sie es tun?

Alles andere ist Caprice.

Gerhard van der Grinten, 13./21. Juni 2010.

 

Trostspendende Sonntagsveranstaltung

Zur Ausstellung von Johannes Braig beim Ludwigsburger Kunstverein

Der Stuttgarter Künstler Johannes Braig zeigt eine Reihe von Textbildern bzw. Bilder, bei denen integrierte Sprüche und Texte eine zentrale Rolle spielen. Dementsprechend sind sie von auffallend  kommunikativem Charakter. Man braucht sie nicht lange auf sich wirken zu lassen. In ihrer fröhlichen Buntheit und ihrer formalen Aufgeräumtheit springen sie den Betrachter förmlich an. Und ganz praktisch angelegt sind die Textbilder auch: Die wichtigste Frage des Betrachters – nämlich: Was will uns der Künstler damit sagen? – ist schnell beantwortet: Das ist ja auf den Bildern aufgemalt… Diese Bemerkung war natürlich nicht ganz ernst gemeint, aber sie führt uns mitten hinein ins Werk von Johannes Braig. Denn die Ironie ist zweifelsohne dessen zentrales Stilmittel. 

Die Ironie verwendet Braig für unterschiedliche Zwecke. Mal zielt er auf den schnellen Witz und die sichere Pointe, mal will er provozieren oder bloßstellen. Mal bringt er damit die eigene Verwirrung und Unsicherheit zum Ausdruck, ein anderes Mal wieder ist es der Betrachter, dem er ein Rätsel stellt. Auffallend dabei ist, dass er nie die Grenze zum Sarkasmus oder zum Zynismus überschreitet. Für Hetze, Beschimpfung, Beleidung oder unflätigen Ausdruck ist kein Platz in seinen Bildern. Braigs Ironie ist stattdessen fein ziseliert und wohldosiert. Sie fußt auf guter Beobachtungsgabe und reichlich intendiertem Hintersinn. Der Humor, der daraus resultiert, wirkt bisweilen ein bisschen gewollt anachronistisch; ihm wohnt etwas „Onkelhaftes“ inne. Braigs Bilder erinnern deshalb an den Großmeister dieser Art von Humor: an Loriot.

Auch vom Inhalt her betrachtet lässt sich in Braigs Arbeiten ein zentrales Thema festmachen: Ihm geht es um die Kunst. Auf den Punkt gebracht kann man festhalten: Braig macht Kunst über Kunst. Dabei spannt er einen weiten Bogen: Mit fundamentalen Anliegen ( „Was ist Kunst?“ „Wozu überhaupt Kunst?“) setzt er sich ebenso auseinander wie mit Fragen der Ästhetik oder den Mechanismen und Wechselwirkungen des profanen Kunstbetriebs im Allgemeinen und des kommerziellen Kunstmarktes im Speziellen.

In der Kombination aus Stilmittel und Inhalt, oder anders ausgedrückt: wenn Braigs Ironie in den Kunstbetrieb fährt, bekommt jeder sein Fett ab: Käufer, Betrachter, die Schar der sogenannten Experten (Kuratoren, Galeristen, Kritiker, Preis-Juroren), der Künstler als solcher selbst. Und auch die wohlwollenden Besucher seiner eigenen Ausstellung sind vor Braigs Ironie nicht sicher. Die nämlich lockt er mit dem harmlos, allenfalls milde blasphemisch klingenden Titel „Trostspendende Sonntagsveranstaltung“. Wer weiß schon, dass dieser Begriff auf keinen Geringeren als den Frankfurter Philosophen Adorno zurückgeht, der damit seinen Spott über den bürgerlichen Kunstkonsum auf den Punkt brachte?

Braig ist also nicht abgeneigt, falsche Fährten zu legen. Auch wirken seine Bilder darauf angelegt, vom Betrachter auf den schnellen Blick erfasst und nicht weiter reflektiert zu werden. Doch das ist pures Understatement! Ein Fehler wäre folglich, Braigs Arbeiten auf den Text zu reduzieren. Braig ist bildender Künstler, und er inszeniert keine Lesungen, sondern Gemälde-Ausstellungen. Seine Botschaften setzt er auf subtile Weise auch malerisch um und fort. Manche Bildkomposition, Farbgebung und Ausführung ist für sich selbst genommen reinste Ironie. Verrutschte Buchstaben, vermeintlich missglückte Zeilenumbrüche, kitschig und deplatziert wirkende Details – das ist alles Teil der künstlerischen Strategie. Ein anderer Fehler wäre, bei all der fröhlichen Buntheit und der lustigen Grundstimmung in den Bildern, die gedankliche Tiefe und die Ernsthaftigkeit in Braigs Werk zu übersehen. Braig lässt tiefe Einblicke in das eigene Hadern und das Ringen um Resultate zu. Dabei geht es ihm weniger um die Nabelschau in eigener Sache. Ihm geht es vor allem um das große Ganze – die Kunst als solche. 

Braig macht Kunst nicht nur aus dem Bauch heraus, er versucht auch, sie vom Verstande her anzugehen. Kunstwissenschaftler und -denker geben ihm dabei wichtige Impulse. Der bereits erwähnte Adorno scheint ihm besonders nahe zu stehen. Vor allem die Paradoxien, die Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“ beschreibt, reizen ihn und legen zugleich den Grundstein für die künstlerische Freiheit, die sich Braig nimmt. Solche Paradoxien lauten etwa: „Die Funktion der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ist ihre Funktionslosigkeit.“ Oder: „Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist.“ Es lohnt sich folglich, Braigs so populär angelegte Kunst auch einmal von dieser „Kopf-lastigen“ Seite anzugehen. 

Johannes Braig, Jahrgang 1967, hat an der HdK (jetzt: UdK) Berlin und an der École Nationale Supérieure des Beaux Arts Paris bei Annette Messager Kunst studiert. Als Meisterschüler in der Klasse von Leiko Ikemura hat er sein Kunststudium abgeschlossen. Es folgten Ausstellungen u.a. in Ravensburg, Stuttgart, Paris und Berlin. Neben figurativen Arbeiten, bei denen Braig eine ganz eigene Formen- und Farbsprache gefunden hat, entstehen seit einigen Jahren auch die Textbilder, die den Schwerpunkt seiner Ludwigsburger Ausstellung bilden.                            

Stefan Schuler, 2008

 

 

Wer hat Angst vor Rosa, Türkis und Himmelblau?

Zur Ausstellung von Johannes Braig bei fine arts 2219

Was der Ausstellungstitel erahnen lässt, bestätigt sich auf den ersten Blick: Es geht bunt und farbenfroh zu in der Bilderwelt des Johannes Braig. Da mischen sich kräftige Töne zu wilden Farb-Collagen, leuchtet freundliches Hintergrund-Kolorit, posieren poppig bunte Figurenwesen. Man ahnt: Hier malt keiner, der sich zum Gesellschafts-, Welten- oder Zeitenkritiker berufen fühlt, sondern ein Künstler, der nach ausdrucksvoller Ästhetik strebt. 

Die Ausstellung „Wer hat Angst vor Rosa, Türkis und Himmelblau?“ zeigt Werke, die zwischen 2003 und 2005 entstanden sind. Zur ersten Orientierung lässt sich die Ausstellung wie folgt beschreiben: Zu sehen sind zwei Werkgruppen. Die erste, zeitlich ältere, besteht aus einer Serie von Spruchbildern: Blanke, in wenigen Worten und unmittelbar verständlicher Sprache auf die Leinwand gebrachte Ironie; dazu abstrakte Farbflächen und –verläufe, die auf den ersten Blick wie bloße Dekoration wirken, bei längerer Betrachtung jedoch durch ihre eigenwillige Ästhetik und Farbfreude fesseln. Die zweite Werkgruppe besteht aus Zeichnungen und großformatigen Acryl-Bildern, die Frauenfiguren in anmutigen Gesten vor strikt monochrom gehaltenem Hintergrund zeigt. Dazwischen liegen Werke, die gemäß ihrer Entstehung als „Schütt-Bilder“ tituliert werden können. Sie zeigen, ebenfalls vor monochromen Hintergrund, Figuren, die teils durch bewussten Farbauftrag, teils durch nur begrenzt kontrollierbaren Farbfluss „geworden“ sind. Im Ausstellungsensemble wirken diese dynamischen Figuren-Bilder als Bindeglieder, sozusagen als Übergangsmotive von den abstrakten Farbflächen der Spruchbilder zu den figürlichen Arbeiten. 

Eine weiterführende Annäherung an die Ausstellung erschließt sich über die Spruchbilder. 

Es ist ein bekanntes Bild-Arrangement fürs Fernseh-Interview oder das Hochglanz-Porträt: Im Vordergrund der Politiker oder Wirtschaftsführer, im Hintergrund bildfüllend und kontrastreich zu Anzug und Krawatte – abstrakte Malerei. Die damit verbundene, subtil gemeinte, aber meist aufdringlich wirkende Kommunikationsabsicht ist klar: Hier handelt es sich nur äußerlich um einen Machtmenschen, innerlich jedoch um einen sensiblen, tiefgründigen, weil Abstraktion goutierenden Feingeist. Derlei Instrumentalisierung kontert Johannes Braig mit purer Ironie. Eine verwegen triefende Farbschlacht in Acryl versieht er mit dem knappen Hinweis „Abstrakt-wabernde Masse für die Vorstandsetage“. 

Gebrauchsanweisung oder Inhaltsangabe? Möge der Betrachter selbst entscheiden.

Dieses Bild steht exemplarisch für die Spruchbilder, in denen Braig den gesamten Kunst-Betrieb auf die Schippe nimmt. Ein weiteres Werk etwa zielt auf das oft verständnisfreie Verhältnis von Publikum und modernem Künstler: „Ich habe nie behauptet, dass Sie das nicht auch können!“, erklärt Braig vor willkürlichem Farbklecksmotiv, und fragt dann mit scheinheiliger Provokation: „Aber warum sollten Sie es tun?“ In einem anderen, nicht gezeigten Bild („Ich will auch einen Kunstpreis“) bettelt er in Schmunzeln machender Art um Ruhm und Anerkennung. 

Mit seinen Spruchbildern verlässt Braig jedoch nie den Rahmen humoriger, freundlicher Ironie – weder verbal noch malerisch. Verletzende Bissigkeit und Sarkasmus sucht man vergebens. Seine Ironie ist klar, offensichtlich und verständlich. Das wiederum macht stutzig. Sollte mehr dahinter stecken?

Zur Beantwortung dieser Frage mag ein streifender Blick auf die debattenreiche Disziplin des „Theoretisierens über Kunst“ hilfreich sein. Vom Ende der Malerei, gar vom Ende der Kunst ist dort oft die Rede – und davon, dass in der Kunst nichts Neues mehr möglich sei, da alles schon da gewesen, gemalt, erschaffen, aufgeführt usw. sei. Dieses endzeitliche Postulat nimmt Johannes Braig zum Ausgangspunkt neuer schöpferischer Freiheit: Wo nichts (Neues) mehr möglich ist, wird für ihn alles (wieder) möglich. So greift er wie selbstverständlich auf das tradierteste aller Kunst-Medien – die Leinwand – zurück, karikiert das eigene Hadern mit fröhlicher Ironie, bekennt sich zu farbiger Ästhetik (ohne Scheu vor der Nähe zum Kitsch) und malt mit Vorliebe ein seit Urzeiten immer wiederkehrendes Motiv: Frauenkörper. Als Künstler verzichtet er so bewusst auf kunstgeschichtliche Konsistenz und zieht dem konsumptiven Zugang zur Kunst („Will uns der Künstler etwas sagen?“) mit farbenfroher Unbekümmertheit eine lange Nase.

So besehen rückt auch der Ausstellungstitel in ein anderes Licht. Naheliegend ist die Vermutung, hier handle es sich um eine Anspielung auf die Bilder-Serie „Who is afraid of Red, Yellow and Blue?“ des amerikanischen Puristen Barnett Newmann (1905-1970). Aber ist er das wirklich? Für sich betrachtet ist der Titel eine gelungene Überschrift über eine Ausstellung, die dem Betrachter tatsächlich eine Auseinandersetzung mit kräftigem Rosa, Türkis und Himmelblau abverlangt. (Dieses poppige Kolorit mag akzeptabel sein als saisonal begrenzte Mode-Farbe für Flip-Flops oder ähnliche Accessoires, im Zusammenhang mit Kunst steht es allerdings unter Kitsch-Verdacht.) Doch wo ist nun das Verbindende zwischen Braig und Newman? Wahrscheinlich nicht vorhanden, zumindest vom Künstler nicht beabsichtigt. Man darf sich allerdings einen zufriedenen Johannes Braig vorstellen angesichts der unausbleiblichen Versuche, durch die Kunstgeschichte eine verbindende Gerade von Newman nach Braig zu ziehen. 

Falsch wäre indes der Schluss, Braig sei gänzlich positionslos. Dies belegen seine Frauenkörper. Er zeichnet und malt sie in vielfältigen Posen und Gesten: Ruhend, tanzend, winkend, kauernd, immer zum Spiel fantasievoller Betrachtung einladend. Großzügige freie Hintergrundflächen in erfrischenden Farben lassen den Figuren Raum für ihre Bewegungen. Ihre Körperpartien sind bunt ausgemalt, Details wie Extremitäten und Gesichter nur angedeutet. Dennoch wirken die Figuren anmutig, grazil und lieblich: „Goldige Weible“ in den treffenden Worten einer schwäbischen Betrachterin.

Diese Werkgruppe hebt sich ab von den Spruchbildern. Hier ist keine Ironie im Spiel, kein zu Kunstwerken geronnenes Ringen um schöpferische Resultate. Diese Bilder geraten als ästhetisches Ergebnis selbstbewussten künstlerischen Ausdruckswillens zum Plädoyer für die Kunst an sich. Von hier aus ist es nicht mehr weit zum berühmten Postulat des New Yorker Avangardisten Ad Reinhardt (1913-1967): „Kunst ist Kunst-als-Kunst, und alles andere ist alles andere.“

Stefan Schuler, 2005